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Eugenik - Schöne Neue Welt?

In Aldous Huxleys Zukunftsvision existiert kein Leid mehr durch physische und psychische Krankheiten: Babys werden auf Fertilisationsstationen in Flaschen gezüchtet, zur Welt gebracht und ab dem Kleinkindalter konditioniert. Der genormte Mensch wird zum Hauptinstrument gesellschaftlicher Stabilität.

Der 1932 erschienene Roman Brave New World wird oft als das Gegenstück zu Orwells 1984 angesehen und gilt als Meilenstein der dystopischen Literatur. In Schöne neue Welt ist es jedoch nicht ein totalitärer kommunistischer Staat mit Instrumenten der totalen Überwachung und Folter, der alles Individuelle unterdrückt, sondern ein System, das den Menschen alles potentiell Negative erspart. Von der Befruchtung im Reagenzglas bis zur Erfahrung von Krankheit und Alter, von einengenden gesellschaftlichen Konventionen bis hin zu Traurigkeit und Trauer – den Menschen wird alles abgenommen. Ein von Menschen erschaffenes Paradies, eine „schöne neue Welt“.


Eine ähnliche Zukunftsvision schilderte auch Dr. med. Klaus Heckemann (ehemaliger Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen) in seinem Vorwort zur aktuellen Ausgabe der KVS-Mitteilungen. Frauen mit Kinderwunsch sollte das Angebot gemacht werden, „eine komplette Mutationssuche nach allen bekannten, autosomal-rezessiv vererbbaren schweren Erkrankungen" durchzuführen. Falls eine Mutation festgestellt würde, würde auch der Vater untersucht werden, und im Falle eines „Matches“ zu einer künstlichen Befruchtung mit vorheriger genetischer Untersuchung vor der Übertragung in die Gebärmutter geraten. Damit würde das Risiko einer Erkrankung minimiert werden. Klingt nach einer schönen neuen Welt.


Eugenik – Wozu?

Dr. med. Klaus Heckemann nennt drei Vorteile eines solchen Angebots für Eltern. Erstens wäre da die Kostenersparnis. Ein solches Verfahren durchzuführen wäre wesentlich günstiger, als eventuell schwerkranke Kinder am Leben zu erhalten. Das Wort „Kosten“ kommt in seinem kurzen Artikel zehnmal vor. Selbstverständlich muss sich die Kassenärztliche Vereinigung Gedanken über die Kosten unseres Gesundheitssystems machen, doch hier geht man einen Schritt weiter: Der kranke Mensch als solcher soll verhindert werden, um „unnötige“ Ausgaben zu vermeiden.

Die zweite Begründung ist, dass man sich die ethische Diskussion zum Thema Abtreibung ersparen könnte. Der ungewollte Mensch wurde ja bereits im Vorhinein selektiert und entfernt. Um Trisomie 21 zu erkennen, wäre jedoch noch eine weitere Untersuchung notwendig, da dies eine Spontanmutation ist.

Drittens wird argumentiert, dass „besonders das Leid der betroffenen Eltern“ vermieden werden könnte.

"Die Nutzung einer solchen Chance wäre natürlich zweifellos Eugenik. Allerdings in ihrem besten und humansten Sinn."

Menschsein – Wozu?

Huxleys Schöne neue Welt setzt konsequent die Grundannahmen dreier einflussreicher Denker um: Darwin, Nietzsche und Freud. Darwin löst die Frage der menschlichen Existenz von der Transzendenz und stellt den Menschen auf eine Stufe mit allen anderen Tieren, die dem Gesetz der Evolution unterworfen sind: Natürliche Selektion und Auslese. Survival of the Fittest. Nietzsche denkt diesen Gedanken weiter und träumt vom Übermenschen, der alles, was die evolutionäre Entwicklung aufhält, über Bord wirft. Und wozu das Ganze? Freud kleidet die Antwort Nietzsches in ein wissenschaftliches Gewand und ermittelt den Sinn des Lebens: Glücklich zu sein. Keine Leid-Erfahrung mehr machen zu müssen und jedes Bedürfnis unmittelbar stillen zu können, ohne die überbordende Moralvorstellung einer rückständig-religiösen Gesellschaft beachten zu müssen.

Dr. med. Klaus Heckemann scheint sich in diese Denkschule einzureihen. Eltern soll Leid erspart bleiben, die unschöne Erfahrung einer Abtreibung mit allen ihren körperlichen und psychischen Folgen würde den Frauen erspart bleiben. Und das alles auch noch preiswert, quasi im Sonderangebot. „Oh, schöne neue Welt.“


Leid MUSS vermieden werden?

Das alles ist mehr als bedenklich. Nicht nur, weil es an das NS-Weltbild erinnert, in dem die Gesundheit des „Volkskörpers“ über alles ging, sondern auch, weil es den Wert des Lebens von behinderten und schwerkranken Menschen anzweifelt. Im jüdisch-christlichen Weltbild ist der Sinn des Lebens nicht, glücklich zu sein. Diese hedonistische Annahme, dass das eigene persönliche Glück über alles geht, ist zutiefst unchristlich und geprägt von Denkern, die erklärte Feinde des christlichen Glaubens gewesen sind. Was ist also der Sinn des Lebens?

Der Sinn des Lebens ist Begegnung. Martin Buber, jüdischer Philosoph, bringt es auf den Punkt: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“ Im Miteinander der Begegnung finden wir Erfüllung und innere Zufriedenheit. Das führt dazu, dass trotz mangelhafter äußerer Zustände, Krankheiten und Leid-Erfahrungen, Menschen dankbar und erfüllt leben können. Wer behinderten (und ungeborenen) Menschen das Recht zu leben abspricht, raubt ihnen die Möglichkeit zur Begegnung. Und ohne die Möglichkeit zur Begegnung ist Menschsein nicht möglich.

Viktor Frankl, der nicht nur vier verschiedene Konzentrationslager überlebte, darunter Auschwitz, sondern sich als Psychiater auch die Frage stellte, was ein krankes Leben wert ist, gibt eine Antwort. Warum waren Euthanasie-Anstalten in Pirna-Sonnenstein und anderswo Orte des Verbrechens, anstatt Orte, an denen der Volkskörper gesund gepflegt wurde? Wozu ein krankes, unheilbares Leben erhalten? Seine Antwort: Begegnung! Auch der bettlägerige Gelähmte hat einen Sinn, nämlich den, dass er in der Begegnung Liebe erfährt.


Leid und Trauer sind essentielle Bestandteile des menschlichen Daseins. Ärzte sind dafür da, ihr Bestes zu tun, dieses Leid nach Möglichkeit zu lindern, jedoch nicht dafür, auszuwählen, welchem Menschen die Würde zusteht, Mensch zu sein. Denn die Würde jedes menschlichen Lebens ist unantastbar. Egal in welchem Zustand, ob im Mutterleib oder auf dem Sterbebett. Egal ob krank und leidend oder kerngesund und arbeitend.

Es ist die Aufgabe christdemokratischer Politik, dafür zu arbeiten, dass diese Würde geschützt bleibt. Denn es ist der Wert dieser Würde, der in der „schönen neuen Welt“ verloren gegangen ist.


Dr. med. Klaus Heckemann ist am 4. September 2024 nicht freiwillig zurückgetreten. Das höchste Gremium der KV, die Vertreterversammlung, wählte ihn mit der nötigen Mehrheit ab.

O, Wunder! Wie viele herrliche Geschöpfe es hier gibt! Wie schön der Mensch ist! O schöne neue Welt, die solche Bürger trägt! - William Shakespeare, Der Sturm
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